Dem Spauz auf der Spur

Zwei Frauen suchen nachts im Wald nach seltenen Eulen und innerem Frieden

Langsam fährt der silberfarbene VW-Golf den verschneiten Waldweg entlang. Biegt noch einmal ab und bleibt schließlich mitten im Wald stehen. Zwei Frauen, beide Anfang sechzig, steigen aus. Beide dick vermummt gegen die Kälte. Ein klarer Februarabend. Fünf Grad unter Null, und die Sonne wird gleich untergehen. Düster ragen knorrige Kiefern gegen den rosa Horizont. Fahl leuchtet schon die Sichel des zunehmenden Mondes am Himmel. "Uhlenflucht" heißt diese Schummerzeit zwischen Tag und Nacht hier bei den alten Bauern. Das ist das niederdeutsche Wort für "Eulenflug". Die Zeit, in der die Eulen aktiv werden. Und genau darauf warten Ingrid Wille und Erika Müller.
Die beiden Frauen sind ehrenamtliche Mitarbeiterinnen der Eulen-AG der Ortsgruppe Hanstedt im Naturschutzbund Deutschland. Sie kontrollieren die Reviere der verschiedenen Eulenarten in den ausgedehnten Wäldern rund um Hanstedt im Naturschutzgebiet "Lüneburger Heide". Vor wenigen Jahren erst haben die Amateur-Eulenforscher hier zwei ganz besondere Arten entdeckt: den winzigen Sperlingskauz und den etwas größeren Raufußkauz. "Die leben sonst hauptsächlich in den dichten Nadelurwäldern in Skandinavien und Sibirien", erklärt Ingrid Wille. In Deutschland kannte man sie nur aus den Alpen und den Mittelgebirgen. "Die Käuze haben da die letzte Eiszeit überlebt", erläutert die Eulenspezialistin, "und sind dann dort hängen geblieben". Dass Sperlings- und Raufußkauz aber auch in der Heide vor den Toren Hamburgs leben, überraschte die gesamte Fachwelt.
Ihnen gilt seitdem die ganz besondere Aufmerksamkeit der Naturschützer. "Spauz" und "Rauz" nennen sie die kleinen Eulen liebevoll. "Jeden Dienstag Abend gehen wir los", erzählt Ingrid. "Wenn das Wetter mitspielt". Vor allem in der Zeit von Dezember bis März stecken die Eulen mit oft unheimlich klingenden Rufen ihre Reviere ab und werben um die Weibchen. Dann können die Eulenspezialisten den Bestand der heimlichen Nachtvögel ermitteln. "Aber in diesem Winter war bislang Fehlanzeige", bedauern die beiden Frauen. "Mal sehen, wie´s heute aussieht. Eigentlich ideales Eulenwetter, klarer Himmel und windstill. Denn wollen wir mal."
Schweigend marschieren Ingrid Wille und Erika Müller den Waldweg entlang. Zielstrebig. Der verharschte Schnee knurpst bei jedem Schritt. Schlanke Fichtenstämme säumen den Weg. Nach wenigen Hundert Metern ist eine breite Wegkreuzung erreicht. Hier bleiben die Frauen stehen. Lauschen angestrengt in die zunehmende Dunkelheit. Kein Laut, kein Geräusch ist zu hören. Die Minuten vergehen. Atemluft steht in kleinen Wölkchen vor den Mündern. "Nichts. Weiter.", murmelt Ingrid. Wieder knurpst der Schnee, eintönig. Schemenhafte Bäume verschmelzen allmählich zu einer dunklen Wand. Die ersten Sterne schimmern am Himmel. "Da vorne war letztes Jahr ein Revier vom Rauz", wispert Ingrid. Stehen bleiben. Lauschen. Stille. Doch keine Stille. Da ist was. Rechts im Wald. Ein leises "Krp-krp-krp". Ingrid starrt. Erika steht stocksteif. Stille. Da ist es wieder: "krp-krp-krp. Krp-krp-krp". "Manchmal ist mir der Wald unheimlich", sagt Ingrid später. "Und manchmal fühle ich mich total geborgen". Weiter. Das Geräusch verstummt. Das geheimnisvolle Waldwesen bleibt unsichtbar. Eine Eule war´s jedenfalls nicht.
Eine gute Stunde ist inzwischen vergangen. Die Käuzchen schweigen noch immer. Die Füße finden ihren Weg auch ohne Taschenlampe. Lauschen. Weiter. Urplötzlich zerreißen scharfe Pfiffe im Zwei-Sekunden-Takt die Stille: "djü-djü-djü-djü-djü-djü". Ein Sperlingskauz! Laut! Sehr laut für eine winzige Eule, nur wenig größer als ein Spatz. Endlich! Erika strahlt vor Freude. Doch die erfahrene Ingrid traut der Sache nicht. Sie überlegt. "Ob Dirk Flügge unterwegs ist? Der kann den Kauz täuschend echt nachpfeifen, um ihn anzulocken." Dirk Flügge, der Ober-Eulenspezialist der Gruppe. Ein Einzelgänger, der immer allein losgeht. Eulen "verhören", wie es in der Fachsprache heißt. Passt gut zu dem pensionierten Polizisten. "Hoffentlich hat er für heute Abend ein Alibi", ulkt Ingrid. Erika freut sich trotzdem: "Ich glaube einfach, dass das ein Echter ist", flüstert sie. Das "djü-djü-djü" ist inzwischen verstummt. Ingrid pfeift zurück. So gut wie Dirk Flügge kann sie es nicht. Kauz oder nicht – es bleibt stumm. Die Frauen warten ab. Minuten vergehen. Da – war da nicht ein Geräusch? Knurps. Knurps-knurps. Schritte. "Der Spauz kommt…", grinst Ingrid.
Erika macht ein enttäuschtes Gesicht. "Da hinten. Kommt jemand." In der Dunkelheit ist kaum etwas auszumachen. "Is´ ´n Hund dabei. Is´ doch ´n Hund, oder?" Dirk Flügge hat keinen Hund. "Wer ist das?" Die Situation scheint den beiden Frauen nicht ganz geheuer. Angespannt und regungslos starren sie dem näher kommenden Mann mit Hund entgegen. Die Taschenlampe bleibt aus. Plötzlich hetzt in großen Sprüngen ein aufgescheuchter Hase über den Weg. Der Hund bleibt ruhig. "Nabend" sagt der Mann und bleibt vor den beiden Frauen stehen. Der kleine Hund schnüffelt gelangweilt an ihren Beinen. "Herr Peper?" fragt Ingrid vorsichtig und sieht dem Mann forschend ins Gesicht. "Jo." Die Anspannung löst sich. Heino Peper. Ein älterer Herr. Geht häufig mit seinem Hund hier spazieren. Weiß viel über die Natur. Sieht viel. "Haben Sie eben ein Tonband abgespielt?" fragt er. Ingrid verneint. Er hat die Pfiffe des Sperlingskauzes auch gehört. "Ist scheinbar hier rübergeflogen". "Oder Dirk Flügge", ist Ingrid sich immer noch nicht sicher. "Naja, ich will denn mal zurück. Schön´ Abend noch." Heino Peper und sein Hund verabschieden sich.
Der Blick geht zum Sternenhimmel. Die Sterne funkeln in der kalten Winterluft. Der Große Wagen, Kassiopeia – wie klar der Himmel hier draußen ist. "Aber am liebsten mag ich den Mond", sagt Ingrid leise. "Der hat so was Mystisches". Erika schweigt. Steht einfach da. Andächtig. Scheint die Nacht mit allen Sinnen zu atmen. "Ich bin so gerne nachts im Wald unterwegs", flüstert Ingrid. "Der Mond, die Stille. Und anschließend das Heimkommen in die warme Stube. Da weiß man sein Zuhause erst richtig zu schätzen". Erika sieht glücklich aus. Der Mond scheint ihr direkt ins Gesicht. "Die Eulen sind eigentlich nur Nebensache", sind sich die Frauen einig.
Ach ja, die Eulen sind ja auch noch da. Sollten sie zumindest. Wind ist inzwischen aufgekommen. Aber war da hinten im Raunen der Wipfel nicht noch etwas? Die Frauen legen ihre Hände als Schalltrichter an die Ohren, lauschen angestrengt in die Dunkelheit. "Raufußkauz!" Plötzlich sind die Beiden wie elektrisiert. Ganz so nebensächlich scheinen die Eulen denn doch nicht zu sein. Da ist es, jetzt ganz deutlich zu hören: eine schnelle Folge von dumpf vibrierenden "Hububububub - hububububub"-Rufen. Kurz nur, aber dafür ohne Zweifel echt. Der erste Raufußkauz in diesem Winter! "Was für ein schöner Abend", sagt Erika.

© Dr. Uwe Westphal 2003

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